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Die ärztliche Versorgung in Weisel seit dem 19. Jahrhundert

Weisel wurde 1806 Bestandteil des neu gegründeten Herzogtums Nassau. Die Nassauer hatten für ihre Zeit bereits ein fortschrittliches Gesundheitssystem. Das Edikt über die Reform des Medizinalwesens vom 14. März 1818 garantierte den Untertanen eine kostengünstige ärztliche Versorgung. Nach dem Deutschen Krieg 1866 fiel das Herzogtum Nassau an Preußen. Die Preußen legten zunächst den Schwerpunkt darauf, eine Verwaltungsreform durchzuführen, hatten aber auch einen hohen Standart im Gesundheitswesen. Nach der Reichsgründung 1871 wurde unter Bismarck die Sozialversicherungspflicht für Arbeitnehmer eingeführt. Da in Weisel überwiegend Landwirte und Handwerker wohnten, die in der Regel nicht krankenversichert waren, hatte sich bis zum Ende des 1. Weltkrieges hier kein Arzt niedergelassen. Wer bis zu dieser Zeit medizinischer Hilfe bedurfte, war auf Naturheilkunde und auf die Behandlung durch ärztliche Laien angewiesen. Nur wenige konnten es sich finanziell leisten, einen Arzt oder gar ein Krankenhaus aufzusuchen. Außerdem waren die Wege dorthin weit und beschwerlich. Mit einem Nachen musste man den Rhein überqueren, um nach Bingen zu einem Arzt oder Zahnarzt zu gelangen. Ein geradezu abenteuerliches Unternehmen, wenn man die Strömungsverhältnisse am Mittelrhein in dieser Zeit bedenkt. Im nahen Städtchen Kaub gab es aber schon sehr früh eine Apotheke. 1803 erhielt der Apotheker Benedikt Kölges aus Rüdesheim "die Erlaubnis zur Errichtung einer Filialapotheke" in Kaub. 1850 erhält der Apotheker Emil Flick eine Konzession für eine selbstständige Apotheke unter dem Namen "Amtsapotheke". Ab 1882 wechseln die Inhaber in kürzeren Zeitabständen. In diesem Jahr übernimmt Carl Flick die Apotheke, 1906 der Apotheker Kirchner und 1908 Max von Harenne. Im Kriegsjahr 1915 wird die Amtsapotheke in "Hindenburgapotheke" umbenannt. Diesen Namen trägt sie heute noch.

Das städtische Krankenhaus in St. Goarshausen wurde 1896 eröffnet. Die Pflegekräfte in diesem Hause stellte das Diakonische Werk der evangelischen Kirche. Dieses Krankenhaus konnte auch von Patienten aus Weisel in Anspruch genommen werden, jedoch waren die Pflegekosten wohl von den Wenigsten aufzubringen. Nach dem I. Weltkrieg bemühte man sich seitens der Gemeinde Weisel, einen Arzt ansässig zu machen. Auch die Besitzer der inzwischen zahlreichen Schiefergruben in der Umgebung mit ihren unfallträchtigen Arbeitsplätzen waren an einer besseren ärztlichen Versorgung interessiert, zumal die dortigen Arbeiter in der Knappschaftskasse krankenversichert waren. Nach jahrelangen intensiven Bemühungen einen Arzt zu finden, ließ sich im Jahre 1920 ein gewisser Dr. Wecker in Weisel nieder. Er wohnte und praktizierte im Haus des Schreinermeisters Anton Knecht in der Neustraße (Metze Anton im Entenquack). Diese Art des Praktizierens konnte aber keine Dauerlösung sein. So entschloss man sich seitens der Weiseler Gemeinde ein Arzthaus zu bauen und dieses einem Arzt für seine Praxis zur Verfügung zu stellen. Der Architekt Karl Back entwarf ein komfortables Haus, in dem eine Praxis und eine Wohnung untergebracht werden konnten. Dieses Haus wurde am Ortsausgang nach Kaub auf dem ehemaligen Schulturnplatz erstellt. Nach seiner Fertigstellung im Jahre 1922 ließ sich der junge Arzt Dr. Rudolf Scharrenberg in Weisel nieder, der von nun an fast 40 Jahre die medizinische Versorgung für die gesamte Region übernehmen sollte. Da die wenigsten Landwirte aus finanziellen Gründen einer Krankenkasse angehörten, gründete die Gemeinde eine Ersatzkasse. In diese Kasse hatte jeder Weiseler Bürger, der nicht bei einer Pflichtkrankenkasse versichert war, das so genannte "Doktorgeld" von jährlich 3 Reichsmark (RM) zu zahlen. Aus dieser Kasse zahlte die Gemeinde ein Grundgehalt an Dr. Scharrenberg, welches vertraglich abgesichert war. Außerdem stellte ihm die Gemeinde im neuen Arzthaus die Praxisräume und die Wohnung mietfrei zur Verfügung. Auch Nachbargemeinden, z. B. Rettershain, schlossen ähnliche Verträge mit Dr. Scharrenberg ab. Eine für die damalige Zeit ziemlich seltene und sehr fortschrittliche Lösung. Für eine Behandlung in der Praxis hatten die Patienten 1 RM, für einen Hausbesuch 1,50 RM zu zahlen. Aber in vielen Fällen, so wird berichtet, führte Dr. Scharrenberg seine Behandlungen kostenlos durch, weil es immer noch Familien gab, die finanziell nicht in der Lage waren, auch diese relativ geringen Honorare zu zahlen. Über die normale medizinische Behandlung hinaus führte Dr. Scharrenberg auch kleine ambulante Operationen durch. Da es in Weisel und der näheren Umgebung keinen Zahnarzt gab, übernahm er auch oft die Zahnbehandlung. Außerdem überwachte er den relativ geringen Arbeitsschutz und führte den Arbeitsmedizinischen Dienst auf den umliegenden Schiefergruben durch. Als am 7. April 1926 die Postbuslinie zwischen Nastätten und Kaub ihren Dienst aufnahm, gab es einen weiteren Fortschritt in der medizinischen Versorgung. Dr. Scharrenberg führte nämlich den so genannten Apothekerkasten ein. Denn wer bis dahin ein Medikament benötigt hatte, musste dieses in einem zweistündigen Fußmarsch nach Kaub und zurück aus der dortigen Apotheke holen.

Von nun an konnte man sein Rezept in diesen Apothekerkasten einwerfen. Dieser Kasten wurde von der Familie August und Maria Dillenberger (Vohls Marie), die unmittelbar an der Bushaltestelle wohnte, verwaltet. Mit dem Nachmittagsbus wurden die Rezepte nach Kaub gebracht und dort vom Apotheker in Empfang genommen. Dieser packte die Medikamente mit Preis und Namen versehen ein und schickte sie mit dem Abendbus nach Weisel. Familie Dillenberger übernahm dort die Verteilung und kassierte den Rechnungsbetrag. Für diese Arbeit erhielt sie eine kleine Provision.

Nach dem Tod der Familie Dillenberger im Jahre 1976 übernahm die Familie Adolf Hölzers die Betreuung des Apothekerkastens. Obwohl die Buslinie nach Kaub inzwischen aus wirtschaftlichen Gründen stark eingeschränkt ist und fast jede Weiseler Familie über ein eigenes Auto verfügt, besteht diese Art der Medikamentenversorgung bis heute. Inzwischen holt ein Mitarbeiter der Apotheke den Kasten täglich mit seinem Auto ab, aber fast alle Weiseler bekommen ihre Medikamente noch über diesen bewährten Weg. Die Kauber Apotheke war ab 1937 im Besitz des Apothekers Wilhelm Schönberger, im Kriegsjahr 1940 übernahm die Apothekerin Ingeborg Bubinger die Verwaltung der Apotheke. Im Jahre 1954 ging sie an die Apothekerin Agnes Pulm über, bis dann endlich im Jahre 1959 der Apotheker Erwin Fuchs für über 35 Jahre im Dienste der Patienten stand. 1995 übernahm der Apotheker Helmut Krings als Pächter die Apotheke in Kaub.

Zurück zur Arztsituation in Weisel: Während des II. Weltkrieges, zu dem Dr. Scharrenberg nicht eingezogen war, hielt er hier unter schwierigen Bedingungen die medizinische Versorgung in Weisel und Umgebung aufrecht. Da es Treibstoffmangel gab und sein Auto später sogar von der Militärbehörde eingezogen wurde, war er meist mit einem Fahrrad auf dem Weg zu seinen Patienten. Nach dem Einmarsch der Amerikaner im März 1945 fungierte Dr. Scharrenberg als Dolmetscher und Vermittler zwischen den Besatzungsorganen und der Bevölkerung und sorgte so gut es ging für kleine Erleichterungen. In den Jahren nach dem Krieg besaß Dr. Scharrenberg eines der ersten Autos im Dorf, einen hellbraunen so genannten Buckelford. Da er selbst relativ klein war, schien es oft von weitem, dass dieses Auto ohne Fahrer unterwegs sei. In Weisel war er meist noch mit seinem Fahrrad und seiner Arzttasche unterwegs. In die benachbarten Orte fuhr er nun mit seinem Wagen. Da es sonst kaum Autos gab, diente sein Auto auch oft als Taxi, d.h. er nahm oft Leute, die zu Fuß unterwegs waren, ein Stück mit.

Nachdem der Sohn von Dr. Rudolf Scharrenberg, Hans-Harald Scharrenberg, sein Medizinstudium abgeschlossen hatte, stieg dieser im Jahre 1952 in die Praxis seines Vaters mit ein. Drei Jahre vor seinem Tode 1961 übergab Dr. Rudolf Scharrenberg die Praxis an seinen Sohn Hans Harald Scharrenberg. Mit der zweiten Generation der Familie Scharrenberg war nun ein Mediziner ansässig, der in Weisel aufgewachsen war und auch die sozialen Hintergründe fast aller seiner Patienten persönlich aus eigener Erfahrung kannte. Da die Räumlichkeiten in dem alten Arzthaus der Gemeinde nicht mehr zeitgemäß waren, ließ sich Dr. Hans-Harald Scharrenberg 1965 ein eigenes neues Haus mit Wohn- und Praxisräumen bauen. Das ehemalige gemeindeeigene Arzthaus kaufte der Dachdeckermeister Gerhard Ochs, der es zu einem reinen Wohnhaus umfunktionierte.

Als Dr. Scharrenberg im Jahre 1997 aus Alters- und Gesundheitsgründen seine Praxis aufgeben musste, schien die ärztliche Versorgung in Weisel gefährdet. Zwar bemühte man sich seitens der Ortsgemeinde, wieder einen Arzt ansässig zu machen, blieb aber dabei immer im Ansatz stecken, zumal es an Praxisräumen fehlte. Auch über die Art und Weise, wie der Übergang von Dr. Scharrenberg zu seinem Nachfolger vonstatten gehen sollte, kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Dr. Scharrenberg und den Vertretern der Gemeinde. Die Situation war am Ende völlig festgefahren, was aber den Patienten wenig nutzte. Diese begannen sich nach Alternativen umzusehen. Da die meisten Menschen hier auf dem Land sowieso auf ein Auto angewiesen sind, suchte man Ärzte in der näheren Umgebung auf, so in St. Goarshausen, Kaub oder in Lorch.

Seit 1992 hat sich die Situation wieder entspannt, nachdem der Arzt Joachim Meinhold in Weisel seine Praxis eröffnet hat. Im Jahr 2005 kam mit der Ärztin Doris Keller und ihrer Praxis im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Firma Elbag sogar noch eine weitere Hausarztstelle hinzu.