Zum Inhalt springen

Dr. phil. Wilhelm Schmelzeisen (1909-1944)

Studienrat

von Dr. Hiltraud Strunk geb. Schmelzeisen, Siegen

Sippentreffen „Schmelzeisen“ am 16. November 2002 in Weisel. Meine Familie ist mit mir angereist, Kinder und Enkel freuen sich auf das Wiedersehen mit den Verwandten. Zu meinem persönlichen Programm gehört auch der Besuch der Gräber; mein jüngster Sohn begleitet mich zum Friedhof. Unterwegs treffen wir zufällig „Tante Greta“ (Greta Dillenberger), freudige Begrüßung – ich kenne sie, seit ich 1943 als Fünfjährige nach Weisel kam. Wir „schwätzen“ – wie die Weiseler das so gerne machen – über die Familie, über Verwandte, Bekannte. Plötzlich sagt sie: „Dein Sohn sieht genauso aus wie Wilhelm!“ Sie meint Wilhelm Schmelzeisen, meinen Vater. Später stelle ich bei genauer Betrachtung von Fotos fest, die Ähnlichkeit von Großvater und Enkel ist verblüffend, und frage mich, warum ich das bisher nicht bemerkt habe. Die Erklärung ist einfach. Ich erinnere mich an die Anwesenheit meines Vaters während der kurzen Fronturlaube – in meinem Gedächtnis als blasse, verschwommene Szenen abgespeichert. Trotzdem kann ich mir ein Bild von ihm machen, denn wir, meine beiden Brüder und ich, besitzen zahlreiche Dokumente: Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Akten. Vor kurzem fand sich in seinem Elternhaus zwischen verschiedenen Briefen und anderen Papieren ein kleines Kontobuch; „Ausgaben für Wilhelm“ hatte sein Vater auf die erste Seite geschrieben. Die Eintragungen beginnen 1922 und enden 1935, die Phase seiner Ausbildung: Schul-, Studien- und Referendarzeit.

Wilhelm Schmelzeisen wurde am 28. April 1909 in Weisel im Haus Brückenstraße 39 geboren. Er war das dritte von vier Kindern: Alfred Schmelzeisen (1903-1984), Anita Schmelzeisen verh. Rheingans (1907-1986) und Hermann Schmelzeisen (1914-1996). Seine Eltern Wilhelm Schmelzeisen (1877-1959) und Magdalene Schmelzeisen geb. Knecht (1882-1952), beide „Nachgeborene“ aus Bauernfamilien ohne Aussicht auf eine eigene landwirtschaftliche Existenz, machten sich vier Jahre nach ihrer Hochzeit „selbstständig“, das heißt, sie gründeten einen neuen Bauernhof. Dazu kauften sie 1905 das Haus Brückenstraße 39. Es gelang ihnen, mit viel Fleiß, Energie und Organisationstalent einen landwirtschaftlichen Betrieb aufzubauen. Diesen Eigenschaften seiner Eltern verdankte mein Vater seinen Werdegang; er war sich dessen immer bewusst.

Als Kind soll er ziemlich wild und immer zu Streichen aufgelegt gewesen sein. Eigene Aussage (von meiner Mutter erinnert): „Eigentlich hatte ich immer etwas ausgefressen, kam häufig mit schlechtem Gewissen nach Hause und fürchtete Strafe.“ Die „Missetaten“ reichten vom streng verbotenen Forellenfangen im Harbach bis zu einem eher harmlosen Scherz: Er schlich sich eines Abends in den Stall der Nachbarn, bestrich dort die Hörner einer Ziege mit Ofenbronze und amüsierte sich am nächsten Morgen über das allgemeine Erstaunen darüber, dass dieser Ziege über Nacht silberne Hörner gewachsen waren.

Die Eltern erzogen die Kinder sehr streng. Disziplin, Pflichterfüllung und Gehorsam waren oberste Prinzipien, verbunden mit einer unerschütterlich christlichen Lebenseinstellung, die ihn und seine Geschwister für ihr Leben prägte. Alle Kinder der Familie mussten schon früh in der Landwirtschaft mitarbeiten, trotzdem fanden die drei Brüder (besonders im Winter) Zeit zum „Bosseln“, einer Tätigkeit angesiedelt zwischen Kunst und Handwerk. Aus verschiedenen Hölzern stellten sie Gebrauchsgegenstände und kleine Möbelstücke her, außerdem Kästen in verschiedenen Größen (als Geschenke), verziert mit Schnitzereien und farbigem Oberflächendekor. Einige dieser Werkstücke meines Vaters existieren noch heute.

Er ging gerne zur Schule, der Unterricht bei dem damaligen Weiseler Lehrer Reinhard Kegel machte ihm großen Spaß; er war ein eifriger, wissbegieriger Schüler, der leider als umgewöhnter Linkshänder „kritzelte“; Schönschreiben hatte aber in den Schulen der damaligen Zeit einen hohen Stellenwert. Er bewunderte seinen älteren Bruder Alfred, der wunderschön schrieb. Beide Tatsachen, sowohl das „Kritzeln“ als auch das „Schönschreiben“ der beiden Brüder, sind durch viele Dokumente belegt.

Im Alter von zwölf Jahren begann er über die Möglichkeit nachzudenken, ein Gymnasium zu besuchen; ob Lehrer Kegel oder Pfarrer Wilhelm Röhricht ihn dazu anregten, ist nicht überliefert, ich nehme es aber an. Außerdem war ihm bewusst, dass sein Bruder Alfred als ältester Sohn den Hof der Eltern übernehmen würde, er selbst auf jeden Fall eine andere Existenz suchen müsste. Er vereinbarte mit seinen Eltern, die ja eine ähnliche Erfahrung gemacht hatten, ein Arrangement. Sie wollten ihm Schulbesuch und Studium finanzieren, dafür sollte er auf sein Erbe (Hausanteil und Felder) verzichten; sie fanden diese Lösung gerecht, denn die Geschwister wurden in keiner Weise durch diese vorgezogene Erbregelung benachteiligt. Das schon erwähnte Kontobuch, das sein Vater gewissenhaft führte, gibt Aufschluss über die Durchführung dieses Plans, das heißt, es dokumentiert seinen Werdegang vom 13. Lebensjahr bis zum Ende des Studiums und des anschließenden Referendariats.

Während des letzten Volksschuljahres und noch ein Jahr nach der Schulentlassung (April 1922 bis März 1924) erhielt er Privatunterricht, zunächst neben der Schule, dann neben intensiver Mitarbeit in der elterlichen Landwirtschaft.

 

Erste Seite des Kontobuches:

Ausgaben für Wilhelm 1922

1 Englisches Buch 45,35

Für andere Bücher 346,30

Lehrer Kegel für Stunden von 1. August bis 18. Nov. 60 Pfd. Korn Geldwert 6000

Frau Doktor für Stunden von 1. August bis 18. Nov. 30 Pfd. Hafer Geldwert 3000

Pfarrer für Stunden von 1. August bis 18. Nov. 1 Ztr. Korn Geldwert 11.000

(Pfd. = Pfund; Ztr. = Zentner)

Welche Fächer diese drei Privatlehrer erteilten, geht aus dem Kontobuch nicht hervor, nach der Familienüberlieferung hatten sie sich die Unterrichtsinhalte folgendermaßen aufgeteilt:

Lehrer Kegel: Mathematik und Naturwissenschaften.

Pfarrer Röhricht: Latein und Geschichte.

Frau Doktor: Englisch, Französisch, Deutsch.

Frau Doktor war Hanni Scharrenberg, die Ehefrau des Weiseler Arztes Öffnet internen Link im aktuellen FensterDr. Rudolf Scharrenberg; sie war bis zu ihrem Tod mit meiner Mutter eng befreundet. Als ich noch ein Kind war, erzählte sie mir einmal: „Dein Vater kam zweimal wöchentlich zum Unterricht; zu jeder zweiten Stunde brachte er ein Brot mit.“ Ich weiß noch, dass ich mich damals über dieses „Mitbringsel“ wunderte. Seine Mutter hat es ihm wahrscheinlich als freundliche Geste zusätzlich mitgegeben, es wird im Kontobuch nicht aufgeführt. Die dort vermerkte Bezahlung des Unterrichts in Naturalien (z.B. 1 Ztr. Korn Geldwert 11.000) ist vor dem Hintergrund der Inflation zu sehen; in den Jahren 1922 und 1923 verlor das Geld täglich an Wert, an Kaufkraft, war also kein reelles Zahlungsmittel mehr. Nach dem Währungsschnitt am 15. Oktober 1923 wurde der Unterricht noch wenige Monate bis zum Ende des Schuljahres mit Getreide bezahlt.

 

Im Kontobuch finden sich zwei bemerkenswerte Eintragungen vom 28. April 1924, dem 16. Geburtstag meines Vaters:

Eine weiße Mütze 6,50 M

Eine lederne Mappe 10,50 M

 

Es folgt die Eintragung vom 12. Mai 1924:

Schulgeld für den Monat Mai 12,50 M.

 

Er hatte die Aufnahmeprüfung in die Untersekunda (heute Klasse 10) des Gymnasiums „Institut Hofmann“ in St. Goarshausen bestanden! Die Mütze war eine notwendige Anschaffung, weil die Schüler damals je nach Klassenstufe farblich festgelegte Mützen tragen mussten.

 

Auch über die Fahrt zur Schule gibt das Kontobuch Auskunft:

Monatskarte von der Bahn für 8 Monate von Juli 24 bis März 1925 26,40 M.

Er ging zu Fuß nach Kaub (5 km) und fuhr von dort mit der Bahn. Da er zum Mittagessen noch nicht zu Hause sein konnte, wurde auch dafür eine Lösung gefunden.

Dezember 1924 Frau Koch in St. Goarshausen 5 Zt. Kartoffeln und 1 Ztr. Äpfel für Mittagessen.

Für die folgenden Jahre sind unter anderem folgende Ausgaben verzeichnet: das allmählich steigende monatliche Schulgeld (12,50 M., 15,50 M., 17 M., 20 M.), die Monatskarte (4,50 M.), mehrmals Bücher (3,20 M., 3 M., 6 M., 7 M., 15 M., 6 M., 2 M.) und ein besonderer Schulausflug (von dem es noch Fotos gibt):

Für Wilhelm Reise nach Paris vom 1. bis 10. August 1926 200 M.

Wenige Monate später, Ende Unterprima (Klasse12):

25. April 1927 nach Wiesbaden bei Wilhelm Römer in Logis und Kost.

Dieser Eintrag dokumentiert seinen Entschluss, die Schule in St. Goarshausen zu verlassen, weil er (wahrscheinlich zu Recht) glaubte, er könne dort nicht genug lernen. Er zog nach Wiesbaden, wohnte bei Verwandten (Familie Römer) und besuchte für das letzte Jahr das Riehl-Realgymnasium in Wiesbaden-Biebrich.

 

Kontobuch:

In Biebrich Abitur gemacht

Wilh. Römer Wiesbaden für Kost und Logis 230 Tage à 2M = 460 M

Später erzählte er, bei einem Besuch im Hause eines Schulfreundes habe er dort die vielen Bücher bewundert und dabei gedacht: Wie leicht wäre hier das Lernen!

Nach dem Abitur entschloss er sich zu einem Studium der Naturwissenschaften (Biologie, Mathematik, Physik) mit dem Ziel Lehramt an Gymnasien. Er studierte in Marburg, Freiburg, Göttingen und ab 1930 wieder in Marburg; parallel zu den Vorbereitungen zum Staatsexamen erforschte er für seine Doktorarbeit in Biologie die Entwicklung verschiedener Farnarten. Das Staatsexamen legte er im Sommer 1932 ab; wenige Monate später, im Januar 1933, erfolgte die Promotion. Ein Studium in Rekordzeit! Er hatte die Gabe, seine Zeit konsequent einzuteilen und alle Chancen, die sich ihm boten, optimal zu nutzen. So blieb ihm Zeit für Aktivitäten außerhalb der Universität, er lernte zum Beispiel in Freiburg Ski laufen; während des ganzen Studiums engagierte er sich in der CSV (Christliche Studentenvereinigung). Sogar Streiche sind überliefert, wie nächtliches Planschen im Gänselieselbrunnen in Göttingen. Er war sehr gesellig, hatte viele Freunde aus verschiedenen Fakultäten. Eines Tages brachte er 25 Studienkollegen mit nach Weisel, die von seiner Mutter mit Streuselkuchen versorgt wurden. Einige seiner Freunde hielten den Kontakt mit der Familie noch lange nach seinem Tod aufrecht.

Seine Interessen waren vielseitig, gingen über seine Studienfächer hinaus. Ich halte das für eine Folge des intensiven Privatunterrichts in Weisel. Besonders interessierten ihn Geschichte und Philosophie. Er besuchte in Freiburg Vorlesungen des berühmten Philosophen Heidegger, wovon noch eine Mitschrift existiert.

Aber es war kein ungetrübtes Studentenleben. Seine Eltern schickten ihm monatlich Geld, die im Kontobuch aufgeführten unterschiedlichen Beträge (100 M, 50 M, 60 M, 80 M) belegen die Schwierigkeiten, das Geld aufzubringen. Häufig schickte seine Mutter ihm Essenspakete. Um das Fahrgeld zu sparen, fuhr er am Ende des Semesters mit dem Fahrrad von Marburg nach Weisel. In den Ferien arbeitete er im Weiseler Wald, um etwas Geld zu verdienen, und half zusätzlich in der elterlichen Landwirtschaft. Über seine Ausgaben hat er ebenso akribisch Buch geführt wie sein Vater im „Kontobuch“, immer bemüht, seine Eltern möglichst wenig zu belasten. Die waren sehr stolz auf ihn; so lange sie lebten, hing die gerahmte Promotionsurkunde in ihrem Wohnzimmer.

Nach dem Referendariat in Wiesbaden und einer Zeit als Leiter eines Landjahrlagers in der Lüneburger Heide erhielt er eine Stelle am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Wuppertal-Barmen. Er war inzwischen Familienvater und fühlte sich beruflich und privat am Ziel. Noch als Student hatte er meine Mutter Ruth Graf (1909-1993) kennengelernt; sie kam aus Berrenrath bei Köln und verbrachte regelmäßig ihre Sommerferien bei ihren Verwandten in Weisel. Die beiden heirateten 1936 und zogen kurz nach meiner Geburt im März 1938 nach Wuppertal-Vohwinkel, in die Nähe seines Dienstortes. Dort richteten sie sich eine Wohnung ein und planten eine große Familie. Mit mir, seinem ältesten Kind, hat mein Vater genau eineinhalb Jahre zusammen gelebt; meine beiden Brüder, 1940 und 1943 geboren, konnte er kaum kennenlernen.

Er war sehr gerne Lehrer, die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen machte ihm Freude. Sein pädagogisches Ideal waren „Landerziehungsheime“ (nach Hermann Lietz), eine Verbindung von theoretischem Lernen, praktischer Ausbildung und Leben in der Natur. Daneben beschäftigte er sich weiter mit seinen Hobbys, besonders mit Geschichte; schon 1929 hatte er in Weisel zusammen mit seinen Bruder Alfred damit begonnen, die Familiengeschichte zu erforschen und dafür die Kirchenbücher durchgearbeitet; jetzt widmete er sich der Herausgabe des Nassauischen Geschlechterbuches (Teilband des Deutschen Geschlechterbuches). Zu dieser Zeit gab es einen regen Gedankenaustausch mit seinem besten Freund, dem Historiker Otto Renkhoff, später Direktor des Staatsarchivs in Wiesbaden.

Für Neuerungen war er sehr aufgeschlossen; sobald er Geld verdiente, kaufte er sich einen komplizierten Fotoapparat und (was damals selten war) eine Schreibmaschine, die ich heute noch besitze. Unternehmungslustig und reisefreudig war er schon immer; er fuhr in den Ferien gerne nach Weisel, liebäugelte stark mit Auslandsreisen, die aber aus politischen Gründen schon nicht mehr möglich waren. Zunächst fuhr er ein (geliehenes) Motorrad, kaufte 1936 ein Auto – nach mündlicher Familienüberlieferung mit finanzieller Unterstützung seines Schwiegervaters, der damit erfolgreich die Anschaffung eines Motorrades verhinderte.

Dieser glückliche Lebensabschnitt fand ein abruptes Ende am 1. September 1939, dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Schon Ende September wurde er als Offizier eingezogen, und von diesem Zeitpunkt an bestimmte der Krieg sein Leben: Polen, Russland; schwere Verwundung am Bein 1941, anschließend Lazarettaufenthalt und Genesungskompanie; dann Frankreich – Tod am 1. August 1944 bei St. Pierre (Normandie). Ich habe sein Grab auf dem deutschen Soldatenfriedhof in Marigny mit meiner Familie mehrmals besucht, das letzte Mal am 14. Mai 2005. An diesem Tag schrieb ich in das dortige Gästebuch: „Er hatte keine Chance für mich und meine Brüder ein Vater zu sein.“